Netzwerk ProBeweis soll noch dichter werden
Hannover/Oldenburg. Jede vierte Frau in Deutschland wird einer Studie des
Bundesfamilienministeriums* zufolge mindestens einmal im Leben Opfer von
häuslicher Gewalt oder einer Sexualstraftat. Täter sind ehemalige oder aktuelle Partner. Die Frauenhäuser, Gewaltberatungsstellen und
Beratungs- und Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt (BISS) haben im Jahr
2011 allein in Hannover und der Region 5.150 und im Landkreis Oldenburg 1.049
Betroffene von häuslicher oder sexueller Gewalt registriert. Die Experten gehen aber
von einer wesentlich höheren Dunkelziffer aus. Gerade bei häuslicher Gewalt oder
Sexualstraftaten im sozialen Umfeld besteht für die Betroffenen eine hohe
Hemmschwelle, ihre Rechte wahrzunehmen und sofort bei der Polizei eine Anzeige
zu erstatten.
Falls sie sich doch zu dem Schritt entscheiden, ist für eine
erfolgreiche Strafverfolgung aber eine zeitnahe und gerichtsverwertbare
Dokumentation und Beweissicherung notwendig. Hier greift ein neues Projekt der
Medizinischen Hochschule Hannover (MHH): Am MHH-Institut für Rechtsmedizin
startet am 1. Juni dieses Jahres das Projekt „Netzwerk ProBeweis". Den
Betroffenen soll in Opferambulanzen die Möglichkeit gegeben werden, für eine
eventuelle spätere Beweisführung Verletzungen dokumentieren und Spuren sichern
zu lassen - ohne unmittelbar nach der Tat eine Strafanzeige erstatten zu müssen.
Das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und
Integration finanziert das Projekt über drei Jahre mit jeweils 270.000 Euro.
„Opfer häuslicher Gewalt oder einer Sexualstraftat sind oftmals so stark
traumatisiert, dass sie erst Monate oder Jahre danach Anzeige erstatten können.
Je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird allerdings die Beweislage. Mit
dem Projekt wollen wir den Mädchen und Frauen die Chance geben, wichtige Beweise
auch ohne Strafantrag zu sichern. Mit der professionellen Spurensicherung
ermöglichen wir ihnen eine spätere Beweisführung vor Gericht", betont
Niedersachsens Sozial- und Frauenministerin Aygül Özkan.
In der Rechtsmedizin
der MHH in Hannover und in der Außenstelle des Instituts in Oldenburg gibt es
Beweisambulanzen ab dem 1. Juni 2012, weitere sollen folgen.
Die im Rahmen des Projekts gewonnenen Spuren können, nach Freigabe durch die
Betroffenen, in Ermittlungs- und Strafverfahren eingebracht werden. „Für die
Justiz zeichnet sich hierdurch eine Möglichkeit ab, die Beweissituation in einer
Reihe von Strafverfahren entscheidend zu verbessern, in denen derzeit noch die
Situation Aussage gegen Aussage besteht", lobt Justizminister Bernd Busemann.
Eine Kollision mit dem Legalitätsprinzip, das das Verfolgen jeder Straftat
gebietet, die den Ermittlungsbehörden bekannt wird, sei nicht zu befürchten.
„Durch das Projekt werden die Opfer angesprochen, die sich erst später zur
Anzeigeerstattung entschließen. Zudem wird die Vernetzung des Projekts mit
Opferhilfe und Opferberatungsstellen dabei helfen, Opfern durch Beratung den Weg
zur Anzeigeerstattung zu erleichtern", so Busemann.
Häusliche Gewalt ist meist keine einmalige Tat. Die Betroffenen werden oft
immer wieder Opfer von körperlichen oder sexuellen Übergriffen. Trotzdem ist es
für sie schwierig die Gewaltspirale zu durchbrechen. Sie befinden sich nicht
selten in einer akuten Belastungssituation, leiden an psychischen und physischen
Tatfolgen, schämen sich, machen sich Selbstvorwürfe - und scheuen den Weg zur
Polizei. Damit unterbleibt vielfach auch eine sofortige Strafanzeige. „Bisher
gibt es in Niedersachsen keine entsprechenden Anlaufstellen für Opfer von
Gewaltstraftaten", erklärt Professor Dr. Michael Klintschar, Leiter des
MHH-Instituts für Rechtsmedizin. „Deshalb wollen wir ihnen in unseren
Beweisambulanzen schon vor der Erstattung einer Strafanzeige zur Abklärung eine
zeitnahe, spezifische ärztliche Untersuchung, Dokumentation und Beweissicherung
ermöglichen." Denn sollte sich eine Frau erst nach einiger Zeit für eine
Strafanzeige entscheiden, wären mögliche gerichtsverwertbare Beweismittel
verloren.
Das MHH-Institut für Rechtsmedizin verfügt über die notwendigen forensischen
Kenntnisse und Erfahrungen bei der gerichtsverwertbaren Befunddokumentation. Aus
diesem Grund sind die ersten beiden Beweisambulanzen auch dort angesiedelt. „Mit
der verfahrensunabhängigen Beweissicherung werden mögliche Tatspuren
standardisiert dokumentiert und professionell gesichert. Hierzu werden die
Betroffenen körperlich untersucht und Fotos von Spuren gemacht. Falls notwendig
werden Abstriche sowie Urin- und Blutproben genommen", beschreibt Privatdozentin
Dr. Anette Solveig Debertin, Ärztin am MHH-Institut für Rechtsmedizin, das
Vorgehen in den Ambulanzen. Das Beweismaterial wird anschließend fachgerecht
gelagert.
Das „Netzwerk ProBeweis" soll nicht auf die Standorte in Hannover und
Oldenburg beschränkt bleiben. „Wir wollen ein Netz knüpfen, das so dicht ist,
dass jedes Opfer in Niedersachsen nicht mehr als 100 Kilometer von einer
Untersuchungsstelle entfernt wohnt", sagt Professor Klintschar. Dafür möchten
die Rechtsmediziner landesweit mindestens zehn Partnerkliniken gewinnen, die
über eine Notfallambulanz/Chirurgie und eine Gynäkologie verfügen. Als erste hat
sich die MHH-Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe entschlossen
mitzumachen. „Das Thema ‚Häusliche Gewalt' muss mehr in die Öffentlichkeit
gerückt werden. Den betroffenen Frauen muss geholfen werden. Der Weg in eine
Frauenklinik ist häufig leichter als der Gang zur Polizei. Deshalb machen wir
gerne mit", erklärt Klinikdirektor Professor Dr. Peter Hillemanns. Noch in
diesem Jahr sollen weitere Beweisambulanzen in den Einzugsgebieten Osnabrück,
Braunschweig und Stade/Lüneburg hinzukommen.
„Alle Anlaufstellen sollen bei der forensischen Untersuchung nach demselben
Standard vorgehen und arbeiten mit einheitlichen speziell hierfür von uns
entwickelten Dokumentationsbögen und Untersuchungskits", erläutert PD Dr.
Debertin ein Ziel des Netzwerks. Deshalb lernen die Ärztinnen und Ärzte in den
Partnerkliniken vorher in speziellen Schulungen, wie Beweise und Spuren
gerichtsverwertbar gesichert werden. „Da diese Kenntnisse in der medizinischen
Ausbildung bisher oft vernachlässigt werden, können wir von den Kolleginnen und
Kollegen natürlich nicht erwarten, dass sie sich auf dem Gebiet auskennen", sagt
die Rechtsmedizinerin. „Das Ganze ist aber nicht schwierig, man muss nur wissen,
wie es geht." Ihre Kollegin Dr. Tanja Germerott stellt den Gynäkologinnen und
Gynäkologen beispielsweise den Inhalt der Untersuchungskits vor. Diese werden
allen Partnerkliniken zur Verfügung gestellt. Die Kits enthalten alle Utensilien
- beispielsweise Tupfer für Abstriche, Röhrchen für Blutproben und
Asservierungstütchen - die für die Untersuchung und fachgerechte Beweissicherung
gebraucht werden. Sie sind in den Anforderungen mit den Standards, die auch die
Polizei einhält, abgestimmt. Ein Dokumentationsbogen gehört ebenfalls dazu. „Er
führt die Ärztinnen und Ärzte wie ein Leitfaden durch den Ablauf der
Untersuchung", erklärt Dr. Germerott.
Neben anderen Kliniken wünschen sich die Rechtsmediziner vom „Netzwerk
ProBeweis" auch Frauenhäuser, Beratungsstellen und andere Institutionen der
Opferhilfe als Partner. Professor Klintschar: „Wir würden diese Einrichtungen
gerne mit unserem rechtsmedizinischen Wissen unterstützen und vernetzen. Optimal
wäre es natürlich, wenn sie auf Wunsch der betroffenen Frauen den Kontakt zu uns
herstellen."
Die Beweisambulanzen in Hannover und Oldenburg stehen nicht nur Frauen,
sondern auch Männern, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, zur Verfügung.
Die Kontaktdaten in Hannover: Netzwerk ProBeweis, Sekretariat, Gabi Lüning,
Telefon (0511) 532-5533, luening.gabi@mh-hannover.de oder
ProBeweis@mh-hannover.de. Die Kontaktdaten in Oldenburg: Netzwerk ProBeweis, Dr.
Ulrich Stefan Preiß, Telefon (0176) 1532-4572, preiss.ulrich@mh-hannover.de.
Weitere Informationen erhalten Sie bei Professor Dr. Michael
Klintschar, Telefon (0511) 532-4570, klintschar.michael@mh-hannover.de, PD Dr.
Anette Debertin, Telefon (0511) 532-4589, debertin.anette@mh-hannover.de und Dr.
Tanja Germerott, Telefon (0511) 532 5928, germerott.tanja@mh-hannover.de,
MHH-Institut für Rechtsmedizin.
*Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Prävalenzstudie
„Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutsachland",
2004